Jesus und Lazarus unterhalten sich. Lazarus möchte zur Beruhigung des Petrus zu Pilatus gehen. Jesus sagt,  wegen Petrus könne er das zwar tun, es würde aber letztlich nichts bringen, weil Pilatus wie ein Schilfrohr im Wind sei, und Er erklärt ihm dies näher:

 

»Du wirst nur deine Zeit vergeuden, Freund. Denn Pilatus – du weißt es als Mensch, ich weiß es als Gott – ist nur ein Schilfrohr, das sich je nach dem Wind in die eine oder andere Richtung neigt und auszuweichen versucht. Er ist niemals unaufrichtig; denn er ist immer davon überzeugt, daß er tun wird, und er tut in diesem Augenblick auch, was er sagt. Aber einen Augenblick später, wenn der Wind von einer anderen Seite heult, vergißt er – oh! nicht daß er sein Versprechen nicht halten oder sein Wille schwanken würde – einfach alles, was er vorher wollte. Er vergißt, weil das Heulen eines Willens, der stärker ist als der seine, ihm das Gedächtnis nimmt, alle Gedanken fortbläst, die ein anderer Sturm ihm eingegeben hatte, und ihm neue in den Kopf weht. Und die tausend Stimmen des Sturms übertönt die Stimme seiner Frau, die ihm mit Scheidung droht, wenn er nicht tut, was sie will . . . Und von ihr getrennt, wäre es aus mit seiner Macht, würde er die Gunst des „göttlichen“ Cäsar verlieren, wie sie sagen, obwohl sie davon überzeugt sind, daß dieser Cäsar verwerflicher ist als sie selbst . . . Denn sie sehen in der Person die Idee; die Idee läßt sogar den Menschen, der sie repräsentiert, unbedeutend werden. Und man kann nicht sagen, daß diese Idee ungebührlich wäre. Denn jeder Staatsbürger liebt sein Vaterland, und es ist auch richtig, daß er es liebt, daß er seinen Triumph wünscht . . . Der Cäsar ist das Vaterland . . . und so . . . ist er, selbst wenn er ein Elender ist, groß um dessentwillen, was er repräsentiert. Aber ich wollte nicht vom Cäsar sprechen, sondern von Pilatus. Ich sagte also, daß stärker als alle Stimmen, als die seiner Frau und die der Menge, die Stimme – und was für eine Stimme! – des eigenen Ich sich Gehör verschafft. Das kleine Ich des kleinen Mannes, das gierige Ich des gierigen Mannes, das stolze Ich des stolzen Mannes. Diese Kleinheit, dieser Stolz und diese Gier wollen herrschen, um mächtig zu sein, wollen herrschen, um viel Geld und einen Haufen kriechende Untergebene zu haben. Der Haß brütet im Verborgenen, aber der kleine Cäsar, Pilatus genannt, unser kleiner Cäsar, sieht ihn nicht . . . Er sieht nur die gebeugten Rücken, die Verehrung und Furcht vortäuschen oder sie manchmal auch wirklich ausdrücken. Und für diese stürmische Stimme des eigenen Ich ist er zu allem bereit. Ich sage: zu allem. Hauptsache, er kann weiterhin Pontius Pilatus, der Prokonsul, der Diener des Cäsar, der Beherrscher einer der vielen Regionen des Imperiums bleiben. Und deshalb wird er – auch wenn er mich heute verteidigt – morgen mein Richter sein, mein erbarmungsloser Richter. Die Gedanken der Menschen sind immer unstet, und ganz besonders, wenn der Mensch Pontius Pilatus heißt. Aber du kannst Petrus zufriedenstellen, Lazarus . . . Wenn ihm das ein Trost ist . . . «

»Ein Trost nicht . . . aber eine Beruhigung . . . «

»Dann stelle unseren guten Petrus zufrieden und geh zu Pilatus.«

»Ich werde es tun, Meister. Aber du hast den Prokonsul dargestellt, wie es kein Geschichtsschreiber oder Philosoph hätte tun können. Ausgezeichnet!«
»Genauso könnte ich den wahren Charakter eines jeden Menschen darstellen. Aber gehen wir nun zu den Leuten, die draußen lärmen.«

Quelle: Valtorta Maria, Der Gottmensch, 621.